Der Neoliberalismus wird auch heute noch durch volkswirtschaftliche Theorien am Leben gehalten, die eigentlich längst falsifiziert sind.

Ein Gastbeitrag von Dirk Ehnts

Ein jüngst beim Internationalen Währungsfonds (IWF) herausgegebenes Papier mit dem Titel „Neoliberalism – Oversold?“ betont den politischen Charakter der ökonomischen „Reformen“ der letzten Jahrzehnte. Unter anderem ist in dem Unterkapitel zur Größe des Staates zu lesen: „Curbing the size of the state is another aspect of the neoliberal agenda. Privatization of some government functions is one way to achieve this. Another is to constrain government spending through limits on the size of fiscal deficits and on the ability of governments to accumulate debt.“ Der Staat wurde also kleingehalten, u.a. durch Privatisierung von öffentlichen Aufgaben. Auch Begrenzungen der Neuverschuldung und der Fähigkeit der Regierung, sich zu verschulden, sorgten für eine Einschränkung der staatlichen Ausgaben. Nun könnte angenommen werden, dass die WählerInnen dies halt so wollten und dafür stimmten. Dies allerdings erscheint unwahrscheinlich, denn in der Volkswirtschaftstheorie kommen genau zu diesen Themen Theorien zum Einsatz, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch sind, während andere wohlweislich verschwiegen werden.

Zwei wichtige Punkte sind die Frage der Geldschöpfung sowie die Frage der staatlichen Solvenz. Erstere Frage wird meist über Geldmultiplikatormodelle beantwortet, nach der die Zentralbank die Geldmenge erhöht und die Banken diese Erhöhung dann an den privaten Sektor mehrfach weiterverleihen. Der Einwand, das Haushalte und Unternehmen nicht in bar leihen und keine Konten bei der Zentralbank unterhalten und daher gar kein Zentralbankgeld empfangen, wird meistens geflissentlich unterschlagen. Banken schöpfen jedoch Kredite gegen Sicherheiten – und nicht aufgrund von Ersparnissen, welche sie weiterverleihen. Es heißt ja auch Kreditschöpfung bzw. Geldschöpfung und nicht Kreditübermittlung oder Geldweiterleitung. Durch die Vergabe von Krediten verlängert sich die Bilanz einer Bank, denn auf der Aktiva-Seite kommt der Kredit hinzu und auf der Passiva-Seite die Einlagen. Dies lässt sich durch die Darstellung von Bilanzen ohne großen Aufwand und auch ohne ein spezifisches Vorwissen einfach darstellen. Knut Wicksell in seinem Werk “Geldzins und Güterpreise” von 1898 hatte schon eine Darstellung eines Geldkreislaufs, die dem heutigen stark ähnelt. Wenn also Banken Kredit schöpfen, dann ist der Einfluss der Zentralbanken auf die Inflationsrate wesentlich geringer als angenommen.

Ähnlich einseitig ist die Makroökonomie in der akademischen Welt, wenn es um die Staatsverschuldung geht. Kaum ein/e ProfessorIn für Finanzwissenschaft oder Geldtheorie erklärt den Studierenden, wo eigentlich der Staat sein Konto hat und wie eigentlich Staatsanleihen verkauft werden. Es wird auch selbstverständlich davon ausgegangen, dass der Staat sich wie eine schwäbische Hausfrau Geld leihen muss, um welches ausgeben zu können. Wenn der Staat aber seine Staatsanleihen direkt an die Zentralbank verkaufen darf, wie beispielsweise in Kanada, oder wenn die Zentralbank den Banken Staatsanleihen in unbegrenzter Höhe abkaufen dar, dann könnte doch die Regierung eigentlich gar nicht Bankrott gehen? So ist es tatsächlich, wenn man die Bilanzen betrachtet. Selbst die Bundesbank durfte auf dem sogenannten Sekundärmarkt unbegrenzt deutsche Staatsanleihen aufkaufen. So kann sie sich in den Besitz alles Staatsanleihen bringen, was dann bedeutet, dass die Regierung Zinsen auf Staatsanleihen an die Zentralbank überweist, welche wiederum ihren Zentralbankgewinn in gleicher Höhe wieder ans Finanzministerium überweist. Wie steht es um die Nachhaltigkeit der öffentlichen Verschuldung? Das ist gar kein Problem, sofern die Zentralbank der Regierung zur Seite steht und diese nicht in Fremdwährung verschuldet ist! Damit wird dann auch deutlich, dass die Euro-Krise kein technisches Versagen ist, sondern ein politisches. Hier sollten Länder wie Griechenland, Spanien oder Irland vom Markt (also von Reichen und Banken) bestraft werden, welche so das Primat über die Demokratie erlangten.

Der Neoliberalismus wird auch heute noch durch volkswirtschaftliche Theorien am Leben gehalten, die eigentlich längst falsifiziert sind. Eine Betrachtung der Bilanzen von Zentralbank und Regierung ist weitestgehend ideologiefrei, da ja durch doppelte Buchführung Fehler sofort auffallen würden. So könnten dann die Studierenden selber sehen, welche Buchungen möglich sind und was das für die Verschuldung von Haushalten, Unternehmen, Banken, Zentralbank, Regierung und den Rest der Welt verschuldet. 

Albert Einstein sagte einmal: Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Dies gilt auch für die Sozialwissenschaften, insbesondere für die Ökonomie. Eine bilanzbasierte ideologiefreie Sicht auf den Ist-Zustand des Finanzsystems erlaubt sowohl eine Analyse der bestehenden Probleme wie auch die Suche nach wirtschaftspolitischen Maßnahmen, um diese zu lösen. Bevor theoretische Gebäude errichtet werden, muss das Fundament stimmen. Insofern schützt die Bilanzperspektive die pluralistische Ökonomik davor, dass x-beliebige Annahmen getroffen werden, die dann als Axiome nicht mehr diskutiert werden können.

Modelle der monetären Makroökonomik müssen kritisch durchleuchtet werden, um ihre Stärken und Schwächen sichtbar zu machen. Genau dies soll die Bilanzperspektive leisten. Pluralismus in der Ökonomie kann nur etwas wert sein, wenn die Realitätsgenauigkeit der Modellannahmen tatsächlich überprüft werden kann. Ansonsten droht einem Ähnliches wie in der Neoklassik, bei der die Modelle alle auf der Kausalbeziehung S=I, also die Determination der Investitionen durch die Ersparnis, aufbauen. Eine solche Art von Pluralität lässt sich nur vermeiden, wenn man eine klare Vorstellung von der Realität hat und so in der Lage ist, die allgemeinen Möglichkeiten von denkbaren Modellwelten zu erfassen. Sonst sucht man wie der Betrunkene am Ende doch nur im Umkreis der Laterne nach dem Autoschlüssel, weil alles Andere im Dunkeln liegt.

Wer sich für das Thema weiter interessiert findet zum einen hier ein Buch des Autors und hier einen Kurs zum Thema vom Autor im Rahmen der Summer School in Maastricht vom 18.-22. Juli. Außerdem weitere Literatur zum Thema:

Lavoie, M. (2014). Post-Keynesian Economics: New Foundations. Cheltenham: Edward Elger Publishing.

Lindner, F. (2015). Does Saving increase the Supply of Credit? A Critique of Loanable Funds Theory. World Economic Review(4), 1-26.

Schmidt, J. (2011). Die Bedeutung der Saldenmechanik für die makroökonomische Theoriebildung. In H. Hagemann, & H. Krämer (Eds.), Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft (Vol. 23, pp. 111-147). Marburg: Metropolis.

Schmidt, J. (2012). Sparen – Fluch oder Segen? Anmerkungen zu einem alten Problem aus Sicht der Saldenmechanik. In M. Held, G. Kubon-Gilke, & R. Sturn (Eds.), Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik (pp. 61-85). Marburg: Metropolis.

Strobl, T. (2010). Ohne Schulden läuft nichts. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Stützel, W. (1978). Volkswirtschaftliche Saldenmechanik. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).

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