Göttingen, den 11. September 2012
Wir, Studierende und Lehrende der Volkswirtschaftslehre an über 50 Hochschulen¹ im deutschsprachigen Raum, wollen hiermit auf den alarmierenden Zustand unseres Faches aufmerksam machen und konstruktiv an der Neugestaltung der Volkswirtschaftslehre mitwirken.
Jahrzehntelanger Glaube an die selbstregulierenden Kräfte des Marktes, der vorherrschende Modellplatonismus, mangelnde Selbstreflexion und fehlende Methoden- und Theorienvielfalt haben nicht nur unser Fach in eine Sackgasse geführt: die Einseitigkeit ökonomischen Denkens trägt auch zur anhaltenden Wirtschaftskrise und der damit einhergehenden Perspektivlosigkeit bei.
ÖkonomInnen haben im öffentlichen Diskurs großen Einfluss: Sie schalten sich durch zahlreiche Forschungs- und Beratungsinstitute sowie den Sachverständigenrat in gesellschaftliche Entscheidungsprozesse ein. Als oft zitierte ExpertInnen tragen sie so die Einseitigkeit des derzeitigen ökonomischen Denkens in die Gesellschaft. Dabei haben wir als ÖkonomInnen eine große gesellschaftliche Verantwortung. Dieser können wir nur gerecht werden, wenn wir die Volkswirtschaftslehre erneuern, indem wir einen pluralistischen Blick auf wirtschaftliche Probleme entwickeln.
Wir rufen alle Lehrenden und Studierenden auf, an der Neugestaltung unseres Faches mitzuwirken und in Forschung und Lehre folgende Grundsätze zu berücksichtigen.
Der Schwerpunkt der derzeitigen Lehre und Forschung liegt auf Varianten neoklassischer Grundmodelle. Für Forschung und Lehre jenseits dieser Spielarten ist an deutschen Hochschulen zu wenig Platz. Diese „geistige Monokultur“ schränkt die ökonomische Analyse ein und macht sie fehleranfällig. Wir fordern ein kritisches Miteinander unterschiedlicher Theorien. Die Volkswirtschaftslehre ist eine Sozialwissenschaft und muss – wie andere Sozialwissenschaften auch – vielfältige theoretische Ansätze beherbergen. Vielversprechende, aber derzeit weitestgehend vernachlässigte Ansätze sind beispielsweise: Alte Institutionenökonomik, Evolutorische Ökonomik, Feministische Ökonomik, Glücksforschung, Marxistische Ökonomik, Ökologische Ökonomik, Postkeynesianismus und Postwachstumsökonomik.
Die Mathematisierung der Ökonomik hat dazu geführt, dass die Lehre zur angewandten Mathematik verkommen ist. Die Mathematik darf für ÖkonomInnen nur ein Mittel und niemals ein Selbstzweck sein. Sie soll Teil eines bunten Fächers an Methoden in Forschung und Lehre der Ökonomik sein. Für die Forschung bedeutet dies unter anderem inter- und transdisziplinäre Fallstudien, Theorienvergleiche, Interviews, Fragebögen, teilnehmende Beobachtung, Simulationsmodelle und Diskursanalyse. Die Lehrmethoden müssen beispielsweise durch plurale Lehrbücher, Kleingruppenarbeit, Projektseminare, inter- und transdisziplinäre Veranstaltungen, Fallstudien sowie das Studium von Primärtexten erweitert werden.
Zu oft werden die grundlegenden Annahmen der Volkswirtschaftslehre weder explizit dargelegt noch hinterfragt. Dabei sind diese Annahmen oft nicht nur deskriptiver, sondern auch normativer Natur. Letztendlich wohnen jeder volkswirtschaftlichen Analyse gewisse Werturteile inne. Ihre Reflexion ist ein notwendiger Teil wissenschaftlichen Arbeitens. Besonders die Mathematisierung der Ökonomik führt zu einer Verschleierung der Werturteile und so zu einer vermeintlichen Rationalisierung politischer Programme. Trotz aller Versuche sie durch Mathematik als solche zu definieren, ist die Volkswirtschaftslehre keine Naturwissenschaft.
Des Weiteren müssen Studierende der VWL stärker für die historischen und kulturellen Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns sensibilisiert werden. Nur wer sich der Komplexität der Realität bewusst ist, kann wissenschaftliche Modelle richtig anwenden. Nur so besteht keine Gefahr, Modelle mit der Realität zu verwechseln. Hierfür müssen alle ÖkonomInnen die Geschichte ihres Faches und die wissenschaftstheoretischen Grundlagen kennen. Lehrveranstaltungen über die Geschichte des ökonomischen Denkens und Wissenschaftstheorie müssen daher Teil des Curriculums sein. Als größte Vereinigung von WirtschaftswissenschaftlerInnen im deutschsprachigen Raum sehen wir Sie in der Pflicht, unsere Kritik ernst zu nehmen und gemeinsam mit uns folgende Forderungen umzusetzen.
1. Theorienvielfalt in Forschung und Lehre.
2. Methodenvielfalt in Forschung und Lehre.
3. Erweiterung des Curriculums um Lehrveranstaltungen zur Geschichte des
ökonomischen Denkens, Wissenschaftstheorie und interdisziplinäre Veranstaltungen.
4. Integration pluraler Lehrbücher in das Studium.
5. Abkehr von Thomson Reuters Impact Factor als alleinigem Maßstab für gute Forschung.
6. Besetzung von mindestens 20 % der Lehrstühle mit heterodoxen ÖkonomInnen.
Um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, werden wir für Transparenz sorgen. Auf der Homepage www.plurale-oekonomik.de dokumentieren wir, inwieweit die Organisation des Studiums an unseren Universitäten den gestellten Forderungen Rechnung trägt.
Hochachtungsvoll, besorgte Studierende und Lehrende der Volkswirtschaftslehre
¹: Erstunterzeichner siehe unten
AK Plurale Ökonomik – Bayreuth
AK Real World Economics – Hamburg, Heidelberg, Mainz
Ecoation – Augsburg
Generationjetzt – Bayreuth
IMPULS – Erfurt
Kritische Wirtschaftswissenschaften – Berlin, Potsdam
Kritische Ökonomik – Göttingen
Kritische Ökonomen – Frankfurt
Oikos – Köln
Wirtschaft Neu Denken – Bonn
1. Prof. Dr. Stefan Baumgärtner, Leuphana Universität Lüneburg
2. Prof. Dr. Frank Beckenbach, Universität Kassel
3. a.o. Prof. Dr. Joachim Becker, Wirtschaftsuniversität Wien
4. Prof. Dr. Andreas Bieler
5. Prof. i. R. Dr. Adelheid Biesecker
6. Prof. Dr. rer. pol. Mathias Binswanger, FH Nordwestschweiz, Universität St. Gallen
7. Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup, Westfälische Hochschule
8. Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck, FH Würzburg-Schweinfurt
9. Prof. Dr. Martin Büscher, Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel
10. Prof. Dr. oec. Beat Burgenmeier
11. Prof. Dr. Marc Chesney, Universität Zürich
12. Prof. Dr. Paul H. Dembinski, Universität Freiburg (CH)
13. Prof. Dr. Christoph Deutschmann, Universität Tübingen
14. Prof. Dr. Klaus Dörre, Universität Jena
15. Prof. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A., Universität Rostock
16. Prof. Dr. Trevor Evans, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
17. Univ.-Prof. em. Dr. phil. habil. Dr. h.c. mult. Peter Finke, Universität Bielefeld
18. Prof. Dr. Sylvie Geisendorf, ESCP Europe Business School Berlin
19. Univ. Doz. Dr. Erhard Glötzl
20. Prof. Dr. Torsten Graap, Hochschule für angewandte Wissenschaften 21. Ingolstadt
21. Prof. Dr. Luise Gubitzer, Wirtschaftsuniversität Wien
22. Prof. Dr. Harald Hagemann, Universität Hohenheim
23. Prof. Dr. Reinhold Hedtke, Universität Bielefeld
24. Prof. Dr. Eckhard Hein, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
25. Prof. Dr. Arne Heise, Universität Hamburg
26. Prof. Dr. Peter Hennicke, Wuppertal Institut
27. Prof. Dr. rer. pol. Rudolf Hickel, Universität Bremen
28. Prof. Dr. Gustav A. Horn, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung
29. Prof. Dr. sc. phil. Helga E. Hörz
30. Prof. Dr. phil. habil. Dr. h.c. Herbert Hörz, Leibniz-Sozietät der Wissenschaften Berlin e.V.
31. Prof. Dr. Lorenz Jarass, Hochschule RheinMain
32. Prof. Dr. Ulf Kadritzke, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
33. Prof. Dr. rer. pol. Ulrich Kazmierski, Universität Paderborn
34. Prof. Dr. Heinz D. Kurz, Karl-Franzens-Universität Graz
35. Prof. Dr. rer. soc. habil. Jürgen Lackmann, Pädagogische Hochschule Weingarten
36. Prof. Dr. rer. pol. habil., Dipl. Volksw. Eva Lang, Universität der Bundeswehr München
37. Prof. Dr. habil. Marco Lehmann-Waffenschmidt, Technische Universität Dresden
38. Prof. Dr. Uwe Leprich, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes
39. Prof. Dr. Manfred G. Lieb, Hochschule Heilbronn
40. Prof. Dr. Dirk Löhr, Umweltcampus Birkenfeld, Fachhochschule Trier
41. Prof. Dr. Nina V. Michaelis, Fachhochschule Münster
42. Prof. Dr. Armin Müller, Hochschule für angewandte Wissenschaften Ingolstadt
43. Prof. Dr. Walter Otto Ötsch, Johannes Kepler Universität Linz
44. apl. Prof. Dr. Niko Paech, Universität Oldenburg
45. Prof. Dr. Stephan Panther, Universität Flensburg
46. apl. Prof. Dr. Dr. Helge Peukert, Universität Erfurt
47. Prof. Dr. Friedrun Quaas, Universität Leipzig
48. Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel, Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg
49. Prof. Dr. rer. pol. Thomas Sauer, Fachhochschule Jena
50. Prof. Dr. Stefan Schaltegger, Leuphana Universität Lüneburg
51. Prof. em. Dr. Gerhard Scherhorn, Universität Hohenheim
52. Prof. em. Dr. rer. pol. Dorothea Schmidt, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
53. Prof. Dr. Peter Seele, Universität Basel
54. PD Dr. Irmi Seidl, Swiss Federal Institute for Forest, Snow and Landscape Research WSL
55. Prof. Dr. oec. Stefan Seiter, ESB Business School, Hochschule Reutlingen
56. Prof. Dr. oec. Konstantin Theile, ESB Business School, Hochschule Reutlingen
57. PD Dr. Ulrich Thielemann, Me ́M – Denkfabrik für Wirtschaftsethik
58. Prof. Dr. Claus Thomasberger, Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin
59. Prof. Dr. Achim Truger, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
60. Prof. em. Dr. rer. pol. Peter Ulrich, Universität St. Gallen
61. apl. Prof. Dr. phil. Dipl.-Volkswirt Eberhard Umbach, Universität Osnabrück
62. Prof. Dr. Johann Walter, Westfälische Hochschule
63. Prof. Dr. Florian Wettstein, Universität St. Gallen
64. Prof. Dr. Bettina Zurstrassen, Ruhr-Universität Bochum
Der offene Brief wurde über 900 Mal unterzeichnet.