Das neue Bundeskabinett möchte Wirtschaftskompetenz ausstrahlen. In Wahrheit fehlen aber plurale Perspektiven für eine fortschrittliche und zeitgemäße Wirtschaftspolitik. Das Netzwerk Plurale Ökonomik kritisiert die wirtschaftspolitische Neuausrichtung deutlich: Die Herausforderungen der Gegenwart brauchen mehr als marktliberale Antworten.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will mit seinem Kabinett vor allem eines ausstrahlen: wirtschaftliche Expertise soll höchste Priorität haben. Das Netzwerk Plurale Ökonomik erkennt jedoch deutliche Widersprüche zu diesem Anspruch: Gerade im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie fehlen wichtige ökonomische Perspektiven. Die Beratergremien und das wissenschaftliche Personal setzen einseitig auf marktliberale Antworten, die den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht werden.

Nach ihrem Wechsel von der Führungsetage der Eon-Tochter „Westenergie“ in die Bundesregierung rekrutiert die neue Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) zusätzliches Führungspersonal aus der Industrie. Damit läutet Ministerin Reiche einen wirtschaftspolitischen Schwenk ein, der schwerwiegende Folgen für die kommenden Jahre haben könnte.

In diesem Zusammenhang sieht das Netzwerk Plurale Ökonomik die Besetzung des Beraterstabs im Bundeswirtschaftsministerium ausgesprochen kritisch. Ministerin Reiche hat ihr Beratungsgremium vornehmlich mit marktliberalen Ökonom:innen besetzt. Als Chefökonom ihres Hauses wurde Benjamin Weigert benannt; er leitete bislang den Zentralbereich Finanzstabilität bei der Bundesbank. Reiches Erwartungen an den neu vergebenen Posten deuten darauf hin, dass künftig marktwirtschaftliche Leitlinien, Haushaltsdisziplin und wettbewerbsorientierte Rahmenbedingungen einen höheren Stellenwert einnehmen werden als wissenschaftsbasierte Evidenz und kritische Perspektivvielfalt.

Kritisch hervorzuheben ist insbesondere die Berufung von Justus Haucap und Volker Wieland in den wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. Haucap, Professor an der Universität Düsseldorf, ist Gründungsmitglied des privatwirtschaftlich getragenen „Institute for Competition Economics“ und sitzt im Verwaltungsrat des „Bundes der Steuerzahler“. Bekannt wurde er unter anderem durch Lobbytätigkeit zugunsten von „Uber“. Wieland, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt und ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat, ist der wirtschaftsliberalen „Stiftung Marktwirtschaft“ verbunden. Zusammen mit Haucap gehört er dem Kronberger Kreis an, einem Expertenzirkel mit klar neoliberaler Ausrichtung.

Reiche hat die Klimaschutzabteilung aus dem Bundeswirtschaftsministerium ausgegliedert, obwohl die deutsche Industrie ein maßgeblicher Treiber der Klimakrise ist und die Transformation des Industriestandorts eine zentrale Aufgabe dieses Jahrzehnts darstellt. Auch der Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, Jens Spahn, lässt durchblicken, dass Klimaschutz keine Priorität für die Regierungskoalition haben wird. Spahn bezeichnete die Vorgänger:innen im Bundeswirtschaftsministerium öffentlich als „rot-grüne Ideologen und Apologeten“; zugleich begrüßte er den personellen Zulauf aus der Industrie ins Wirtschaftsministerium. Damit offenbart auch Jens Spahn ein fragwürdiges Verständnis von Ökonomie: Dass Reiches Neuausrichtung ideologiefrei und objektiv kompetenter sei, bleibt zu bezweifeln.

Sowohl in der Leitungsebene als auch im Beratungsstab des Bundeswirtschaftsministeriums dominiert eine ökonomische Richtung: marktliberal, angebotsorientiert und vielfach eng vernetzt mit privatwirtschaftlichen Institutionen oder Lobbystrukturen. Ein kompetenter Beraterkreis und der Einfluss aus Entscheidungsstrukturen auf Bundesebene sollten jedoch von Diversität geprägt sein. Unterschiedliche Erfahrungshorizonte und ökonomische Ansätze tragen dazu bei, die Komplexität wirtschaftlicher Herausforderungen angemessen zu reflektieren.

Ökonomische Expertise ist keineswegs frei von Wertungen. Vielmehr sind Vorschläge und Einschätzungen immer auch Ergebnis individueller Überzeugungen und Standpunkte. Schon im vergangenen Jahr hat die Otto-Brenner-Stiftung in einer Studie über den Sachverständigenrat auf die mangelnde Pluralität der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung hingewiesen.

Konfrontiert mit dieser Kritik verweist das Bundeswirtschaftsministerium gegenüber dem Netzwerk Plurale Ökonomik auf die „beachtliche fachliche, methodische und normative Vielfalt“ aller Beratungsgremien, darunter auch das 2024 unter Robert Habeck (Grüne) gegründete Ökonominnen-Netzwerk, das weibliche Perspektiven in die Politikberatung einfließen lassen soll. Dieser Eindruck ist für uns nicht nachzuvollziehen, da nach wie vor Vertreter:innen neoklassischer und liberaler Denkschulen in den Beratungsgremien dominieren und das Ökonominnen-Netzwerk nicht das wirkmächtigste Beratungsinstrument der Bundesregierung darstellt.

Demnach ist die wirtschaftliche Kompetenz der neuen Bundesregierung mit Vorsicht zu bewerten. Einseitige Netzwerke und das Fehlen pluraler, wissenschaftlich vielfältiger Perspektiven lassen Zweifel daran aufkommen, ob der eingeschlagene Kurs tatsächlich geeignet ist, die komplexen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit umfassend zu gestalten.

Das Netzwerk Plurale Ökonomik e.V. ist ein unabhängiger Zusammenschluss von Studierenden, Wissenschaftler:innen und Engagierten, der sich für eine Vielfalt theoretischer Perspektiven und Methoden in den Wirtschaftswissenschaften einsetzt. Ziel ist eine offene, reflexive und demokratische Wirtschaftswissenschaft, die sich den drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen stellt.