In der wirtschaftspolitischen Debatte wird aktuell vermehrt eine Verlängerung der Arbeitszeiten als Antwort auf Fachkräftemangel und Produktivitätseinbußen diskutiert. Das Netzwerk Plurale Ökonomik fordert, die Debatte um Arbeitszeit wieder breiter zu denken und auf Grundlage ökonomischer Evidenz zu diskutieren. Statt eindimensionaler Lösungen braucht es einen empirischen und multidimensionalen Ansatz, der eine zukunftsfähige Arbeitsmarktpolitik ermöglicht.

Bundeskanzler Merz betonte jüngst, Deutschland müsse „wieder mehr und effizienter arbeiten“. Auch andere Vertreter*innen der Union plädieren für eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes und eine wöchentliche statt tägliche Höchstarbeitszeit. Rentner:innen sollen zudem Anreize erhalten, länger zu arbeiten. Gleichzeitig wird das Bürgergeld in die Grundsicherung überführt, bei der härtere Sanktionen greifen, unter dem Vorwand, Arbeitslose so schneller wieder in Arbeit zu bringen. Alle diese Forderungen knüpfen an alte Leistungsnarrative an – auf fragwürdiger empirischer Grundlage.

Aber nicht nur konservative Politiker*innen wollen die Leistungsgesellschaft zurück: Auch die SPD hat die Reform des Bürgergelds unter der Begründung mitgetragen, dass dies den Arbeitslosen helfen würde, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Außerdem will Lars Klingbeil, Bundesvorsitzender der SPD und Vizekanzler, dass die SPD wieder stärker als Arbeitspartei wahrgenommen wird und weniger als eine Partei, die sich „nur um das Bürgergeld“ kümmere. Auch das Dezernat Zukunft fordert, dass sogenannte „Survival-Subventionen“, also Sozialtransfers, durch eine arbeitsmarktstärkende Politik überflüssig gemacht werden sollen und Anreize für Ältere gesetzt werden sollten, länger zu arbeiten.

Rund 3 Millionen Arbeitslose stehen gerade laut der Bundesagentur für Arbeit aber nur ca. 630.000 offenen Stellen gegenüber. Es gibt also weniger ein Problem des Arbeitsangebots, sondern es gibt schlichtweg zur Zeit gar nicht genug Arbeitsplätze für alle. Es ist also mehr als fraglich, die Verantwortung für die aktuelle Krise “den Faulen” zuzuschreiben. Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, nimmt deshalb Manager in die Pflicht, in den Standort Deutschland zu investieren, um Jobs zu schaffen.

Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und einer Hochrechnung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) wurden 2024 zudem rund 1,2 Milliarden Überstunden geleistet – davon 638 Millionen unbezahlt. Das entspricht mehr als 750.000 Vollzeitstellen. Die Forderung nach längeren Arbeitszeiten ignoriert diese Realität ebenso wie strukturelle Hemmnisse: Etwa 306.000 fehlende Kitaplätze für Kinder unter drei Jahren verhindern, dass viele Eltern, insbesondere Frauen, (mehr) arbeiten können.

Studien der Hans-Böckler-Stiftung zeigen zudem: Längere Arbeitszeiten führen zu höherer Belastung, mehr Krankenständen und steigender Fehleranfälligkeit. Eine Reduktion der Wochenarbeitszeit um nur eine Stunde kann das Unfallrisiko um acht Prozent senken. Pauschale Arbeitszeitverlängerungen sind damit nicht nur sozial verheerend, sondern auch ökonomisch ineffizient.

Der Wohlstand Deutschlands hängt nicht von längeren Arbeitszeiten ab, sondern von Produktivität, Innovation und sozialer Stabilität. Wer Belastung erhöht, riskiert Burnout, Fachkräfteschwund und geringere Nettoarbeitszeit durch Krankheit. Zudem sei eine Umverteilung des bestehenden Wohlstands notwendig, um die Krisenlast gerechter zu verteilen, betont das Netzwerk Plurale Ökonomik.

Das Netzwerk Plurale Ökonomik fordert, die Debatte um Arbeitszeit wieder breiter zu denken – plural, evidenzbasiert und sozial nachhaltig. Denn Produktivität entsteht nicht durch Druck auf Arbeiter*innen, sondern durch eine gerechte Verteilung von Arbeit, Einkommen und Zeit.

Das Netzwerk Plurale Ökonomik e.V. ist ein unabhängiger Zusammenschluss von Studierenden, Wissenschaftler:innen und Engagierten, der sich für eine Vielfalt theoretischer Perspektiven und Methoden in den Wirtschaftswissenschaften einsetzt. Ziel ist eine offene, reflexive und demokratische Wirtschaftswissenschaft, die sich den drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen stellt.